Eine, zum Nachdenken anregende Geschichte von Vincent Herz aus dem rein pflanzlichen Kurzgeschichtenband „Das Schnitzel freut sich nicht“ . (Allergikerhinweis: Kann Spuren von Sarkasmus enthalten).
Odette ist ein toller Hase. Den halben letzten Sommer habe ich mit ihr im Garten verbracht. Ich habe sie gestreichelt, mich um sie gekümmert, mit ihr gespielt. Odette ist auch eine liebevolle Mutter. Sie umsorgt ihre kleinen Hasenbabys liebevoll und beschützt sie. Wir beherrschen sogar ein paar Tricks – z.B. stupsen wir uns regelmäßig mit unseren Nasen an. Eigentlich ist Odette nicht sonderlich zutraulich. Sie ist normalerweise ein sehr schüchterner Hase. Aber mir gegenüber hat sie sich geöffnet. Mich liebt sie, mir vertraut sie. Häufig nehme ich Odette heimlich abends mit in mein Bett und kuschle mich mit ihr in den Schlaf. Odette und ich, wir sind Freunde!
Als ich an einem lauwarmen September-Nachmittag von der Schule heim komme, ist Odette nicht mehr in ihrem Stall. Sie ist auch nirgendwo auf der Wiese. Sie ist einfach weg. Ich suche verzweifelt nach ihr. Im Keller finde ich sie schließlich – kopfüber an der Wäscheleine baumelnd, darunter eine Blutlache. Daneben mein Vater mit einem blutverschmierten Messer in der Hand. Er hat meine Odette getötet – einfach so! Obwohl er genau wusste, dass sie meine Odette ist. Am Abend schiebt meine Mutter Odette in den Backofen. Sie scheint damit überhaupt kein Problem zu haben, obwohl sie genau weiß, dass sie da meine Odette isst. Ich soll mich nicht so anstellen, meint sie. Für mich ist in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen. Ich habe mich geweigert, Odette zu essen – ganz im Gegensatz zu meiner Familie. Die haben am Tisch sogar noch Scherze darüber gemacht. Das hat Odette nicht verdient. Das hat sie einfach nicht verdient.
Spät abends, als meine Eltern schon im Bett sind, schleiche ich mich in die Küche. Ich sammle alle Knochen aus dem Mülleimer zusammen und packe sie in eine kleine Holzdose. Damit gehe ich in den Garten. Dort begrabe ich meine Odette unter dem Baum, bei dem wir immer gespielt haben. Schaufel für Schaufel hebe ich die Erde aus dem Boden. Ich muss dabei weinen. Ich vermisse Odette. Als ich nach dem Essen zu ihren Babys schaute, waren diese ganz verstört. Ihre Mutter ist schließlich weg und sie wird auch nie mehr zurückkommen.
Aus zwei Ästen baue ich ein Kreuz für Odettes letzte Ruhestätte. Ich halte, allein im Dunkeln, eine Trauerrede. Und ich lege eine Gedenkminute für meine Odette ein. Eine Gedenkminute, das ist das mindeste, was dieses wundervolle Wesen verdient hat.
Wie viele Tiere werden heute noch gestorben sein? Dieser Gedanke kommt mir unwillkürlich während der Gedenkminute. Auch diese hätten bestimmt eine Gedenkminute verdient. Es waren sicher allesamt ganz wundervolle Wesen, auch wenn ich sie nicht kennen lernen durfte.
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